Herausforderungen und Chancen voraus – Interview mit Clemens Frey

Dr. Clemens Frey ist Partner im Bereich Financial Services und arbeitet vor allem für die Versicherungskunden von Roland Berger. Zudem ist Herr Dr. Frey Mitglied im Advance Committee der International Actuarial Association (IAA) und wird zum Jahreswechsel den Internationalen Ausschuss der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV) übernehmen.
Veröffentlicht am 16.12.2022

Herr Dr. Frey, am Ende des Jahres 2022 möchten wir gern einen Blick auf die vergangenen Monate werfen – welche besonderen Herausforderungen haben sich den Aktuarinnen und Aktuaren in Europa und darüber hinaus aus Ihrer Sicht gestellt?

Die großen Herausforderungen, denen die Versicherungsbranche gegenübersteht, sind natürlich auch die Herausforderungen für uns Aktuare. 2022 war ein schwieriges Jahr: die Folgen des Angriffs Russlands auf die Ukraine, hohe Schadeninflation, Lieferengpässe, aber auch die Nachwirkungen von Corona und hohe Naturkatastrophenschäden werden uns noch länger beschäftigen. Dazu kommen langfristige Herausforderungen wie ESG-Reporting, Nachhaltigkeitsmanagement, der Umgang mit den Risiken und den Auswirkungen des Klimawandels und der Digitalisierung. 

Aber es gibt auch Positives zu vermelden; die Einführung von IFRS9/17 im Januar 2023 ist, nach wirklich langer und intensiver Vorbereitung in den betroffenen Unternehmen, ein unglaublich wichtiger Meilenstein, auch wenn wir alle vermutlich noch etwas länger daran werden arbeiten müssen, den Umgang mit den neuen Standards einzuüben. 

Als Mitglied des neu gegründeten Advance Committee der IAA gestalten sie aktiv die berufliche Wirklichkeit der Aktuarinnen und Aktuare weltweit mit. Welche Ziele verfolgt die IAA in seiner neuen Struktur und auf welche Themen soll dort besonders der Fokus gelegt werden?

Das Advance Committee soll die Weiterentwicklung der aktuariellen Expertise anregen und unterstützen und fokussiert damit auf das dritte der drei strategischen Ziele der IAA. Diese Ziele sind – kurzgefasst – Impact, d. h. der Aufbau von Beziehungen zu wichtigen supranationalen Institutionen und die Bereitstellung von aktuariellem Fachwissen auf globaler Ebene, Assure, d. h. Unterstützung der Entwicklung des Berufsstandes, und eben Advance, d. h. die Weiterentwicklung aktuarieller Kompetenzen auch und besonders in neuen Themen und Arbeitsbereichen. 
Ganz konkret koordiniert das Advance Committee die Einsetzung und die Arbeit der (virtuellen) Foren der IAA, zu denen beispielsweise General Insurance und Health als Foren und Data Analytics und Mortality als virtuelle Foren gehören. Ziel ist dabei immer, die Zusammenarbeit möglichst effizient zu gestalten und eine klare Fokussierung der Ressourcen auf die wirklich zukunftsrelevanten Themen sicherzustellen.    

Einige von Ihnen genannte Themen aus dem letzten Jahr, seien es Krieg, Inflation oder Corona werden sicherlich auch im Jahr 2023 eine Rolle spielen und die aktuarielle Arbeit beeinflussen. Welche weiteren zusätzlichen Herausforderungen sehen Sie darüber hinaus zukünftig auf den Berufstand zukommen?

Das Thema Inflation und das Management der Zinssituation werden uns sicher noch bis in das Jahr 2024 beschäftigen, die Themen Nachhaltigkeitsmanagement und Digitalisierung noch wesentlich länger. Wobei der Begriff Digitalisierung eigentlich zu kurz springt. Digitalisierung ist ja sehr ielschichtig und eröffnet sehr viele unterschiedliche Möglichkeiten: beispielsweise eine höhere Effizienz durch Vereinfachung von Prozessen und Produkten und intelligente Automatisierung, die Anwendung neuer Methoden aus dem Bereich Advanced Analytics und AI über die gesamte Wertschöpfungskette von Versicherern hinweg und die Entwicklung neuer Versicherungsprodukte. Das sind alles auch Chancen für uns Aktuare mit einer Reihe neuer Betätigungsfelder. Gleichzeitig auch eine hohe Verantwortung, nämlich das alles mit „sauberen“ Daten zu betreiben, innerhalb einer Governance, die Qualität von vorne bis hinten sicherstellt, und unter Berücksichtigung besonders schutzbedürftiger Kundengruppen. 

Was bedeutet das auch mit Blick auf den aktuariellen Berufsstand und Nachwuchskräfte?

Wir werden damit umgehen müssen, dass sich nicht nur unser Berufsfeld, sondern auch das Profil junger Absolventen und damit der angehenden Aktuare stark wandelt. Ich sehe das sehr positiv. Denn die Absolventen bringen heute eine viel stärkere Ausrichtung auf die Informatik, das praktische Datenmanagement und die Anwendung von Data Science mit, für die wir uns öffnen sollten. Das heißt auch, dass wir unsere Qualifikationsmöglichkeiten fortlaufend anpassen. 

Insgesamt müssen wir es als Berufsstand schaffen, diese vielfältigen Möglichkeiten in Verantwortung zu nutzen. Das heißt vor allem: wir werden unseren „Markenkern“ als Experten in allen quantitativen Fragen der Versicherungswirtschaft nur dann erfolgreich pflegen können, wenn wir ihn fortlaufend und proaktiv weiterentwickeln. 

Vielen Dank für dieses Interview!